OUR MEMORY BELONGS TO US
Foto: DOK Leipzig 2021 / Our Memory Belongs To Us (Regie: Rami Farah und Signe Byrge Sørensen)

„Our Memory Belongs To Us“ heißt der Dokumentarfilm, den Regisseur Rami Farah auf dem diesjährigen DOK-Leipzig präsentierte. Vier Menschen, darunter der Regisseur selbst, stehen darin in einem Pariser Theater vor einer Leinwand. Sie blicken auf Videos, die vor 10 Jahren entstanden sind – während der syrischen Revolution gegen den Diktator Baschar al-Assad. Auf einer Festplatte sind die Videos nach Europa gekommen. Rami Farah hat aus den fast 13.000 Clips eine Auswahl getroffen, die die Revolution vor den Augen der Protagonisten wiedererstehen lässt.
Die drei Männer überlebten die Massaker in ihrer Heimatstadt Daraa während der Revolution - anders als viele ihrer Mitstreiter. Heute leben sie im Exil in Europa. Rami Farah hat sie eingeladen, sich auf eine Reise in ihre Vergangenheit zu begeben. Um ihre Geschichte zu erzählen, gibt er ihnen für 90 Minuten eine Bühne. Dabei stellt sich unweigerlich die Frage: „Ist die Aufarbeitung der Geschichte all die Gewalt wert, die die Erinnerung wachruft?“
Den Erinnerungen eine Bühne
Durch die Kombination des dokumentarischen Videomaterials mit den Reaktionen der Menschen auf der Bühne gelingt es Farah immer wieder, den aus Nachrichtensendungen bekannten, teilweise verpixelten, ruckeligen Bildern der Revolution, der Gewalt und des Chaos ihre konkret menschliche, emotionale Dimension zurückzugeben. Mit drei Kameras werden die vier Männer auf der Bühne ruhig in ihren Ausführungen zu den eingeschnittenen Videoclips begleitet – ein angenehmer Gegenpol zu den teilweise sehr brutalen Videobildern.
Bittersüße Leichtigkeit
Die drei Männer werden in Gegenwart und Vergangenheit in ihren Träumen, Entscheidungen und Überzeugungen ausführlich charakterisiert. Es fällt leicht, sich mit ihnen zu identifizieren, denn obwohl sie Unvorstellbares durchgemacht haben, sind ihre Motivationen klar nachzuvollziehen. Sie entspringen so natürlich einem menschlichen Freiheitsbedürfnis, dass der Film sogar an manchen Momenten eine bittersüße Leichtigkeit gewinnt. Besonders in zwischenmenschlichen Momenten kommt diese zum Ausdruck – wenn vor der Kamera auch dann noch gelacht wird, wenn gerade eine Granate das Zuhause ausgebombt hat.
Sowohl in ihren Hoffnungen als auch in ihrer Verzweiflung wird die Revolution menschlich erfahrbar gemacht. Massenbilder von Kundgebungen oder Gruppentänzen vermitteln eine friedliche Stärke, die sich als trügerisch entpuppt, wenn die Maschinengewehre anfangen zu feuern. Die erhoffte Hilfe der UN bleibt aus, doch selbst dann geben die Revolutionäre nicht auf.
Die Macht der Bilder
Das dokumentarische Format – der Film selbst – hält die Hoffnung am Leben. Der Kampf um die Wahrheit – um die Bilder, die Geschichte schreiben – ist es, der bis zuletzt gekämpft wird, koste es, was es wolle. In der Gegenwart reagieren die Protagonisten auf die Bilder der Vergangenheit, auf denen die Toten, die Freunde, die Mitstreiter wieder lebendig werden, in denen sie weiterkämpfen. Im Nachgespräch erklärt Regisseur Rami Farah, das Kino sei für ihn immer wie ein Zuhause gewesen. Und so ist auch in Farahs Film die Bühne bzw. das Kino der Ort, an dem sich die Bilder räumlich wie zeitlich verselbstständigen: Aus der persönlichen Erinnerung wird eine kollektive.
Die Frage, ob die Aufarbeitung der Geschichte all die Gewalt wert ist, wird dementsprechend zweimal unterschiedlich beantwortet. Die Zuschauer:innen werden mit Bildern konfrontiert, die erschüttern, die wachrütteln und zeigen, warum es notwendig ist, den Kampf um die Wahrheit tagtäglich zu führen. Für die Protagonisten sieht die Sache anders aus: Sie entscheiden sich am Ende dagegen, alte Wunden weiter aufzureißen. Ihre Erinnerungen gehören ihnen – aber ihre Bilder sind überall.
"Our Memory Belongs To Us" von Rami Farah und Signe Byrge Sørensen lief auf dem DOK Leipzig 2021 im Wettbewerb um den Publikumspreis. Vom 1.11. bis zum 14.11.2021 kann er online gestreamt werden.
Kommentieren