Ein bisschen Glamour, Gosse und 70s Funk
Foto: Zackery Michael

Eine blonde Bob Perücke à la Candy Darling, Kord Schlaghosen, dramatische Brillen und 70s Disco Pose. Sängerin St. Vincent ist bekannt für ihre Wandlungsfähigkeit. Auf dem Albumcover „Daddy´s Home“ ist die Künstlerin Annie Clark aka St. Vincent kaum wiederzuerkennen. Die Inspiration für die Ästhetik von „Daddy´s Home“ holte sie sich unter anderem von Martin Scorseses Film „Taxi Driver“, der Schallplattensammlung ihres Vaters, Candy Darling und ihrer Liebe zur Musik der post - Flowerpower / prä - Diskomusik der 70er Jahre. Diese Zeit war geprägt von Hedonismus, Eskapaden und Umbrüchen und eben jenes Gefühl möchte Annie Clark in „Daddy´s Home“ aufgreifen. Ort der Erzählung ist New York, die Stadt, in der Glamour und Gosse, Aufstieg und Fall eng beieinander liegen.
Die Schönheit liegt im Fehler
Und das wird der rote Faden der Platte: Denn es geht um Heldinnen Annie Clarks - um Frauen, die rebelliert haben, die vom Musikbusiness verschluckt und ausgespuckt wurden und die für ihre Kunst nicht nur Ruhm kassiert haben. Der Song „The Melting of the Sun” ist eben dieser Liebesbrief an große Frauen wie Marilyn Monroe, Joni Mitchell und Nina Simone.
Saint Joni ain't no phony
Smoking reds where Furry sang the blues
My Marilyn shot her heroin
"Hell, " she said, "It's better than abuse. So who am I trying to be?
A benzo beauty queen?
St. Vincent - "The Melting of the Sun"
Annie Clark räumt Menschen Fehler ein und übt sich im Verzeihen. Das erklärt auch wie es zum Albumtitel „Daddy´s Home“ zu seinem Namen kam. Denn dieser ist wörtlich zu verstehen: Nach einer mehrjährigen Gefängnisstrafe wurde ihr Vater 2019 aus dem Gefängnis entlassen, nachdem er in einen millionenschweren Betrugsfall verwickelt war. Und dieser Blick ins eigene Privatleben ist für Annie Clark ungewöhnlich. Denn üblicherweise schlüpft die Künstlerin für ihre Alben in verschiedenste Rollen. In „Masseduction“ beispielsweise verkörperte sie eine berühmte Domina, für die Platte „Strange Mercy“ schlüpfte sie in die Rolle einer Hausfrau auf Pillen. Mit diesen Inszenierungen bewegte sich Annie Clark noch mehr im Bereich Art – Pop und wirkte damit ein wenig unnahbar und teilweise zu sperrig für den Mainstream. Die neue Nahbarkeit auf „Daddy´s Home“ steht Annie Clark gut. Aber ganz ohne Inszenierung kommt die Künstlerin nicht aus und verpackt Wahrheiten in Ironie und Zynismus und stellt sie damit überspitzt dar. Bestes Beispiel ist der gleichnamige Song „Daddy´s Home“, in dem St. Vincent erzählt, wie sie ihren Vater vom Knast abholt:
I signed autographs in the visitation room
Waitin´ for you the last time, inmate 502
Daddy´s home
St. Vincent - "Daddy´s Home"
Die neue Platte handelt nicht nur von Annie Clarks Lieblingskünstlerinnen und verbrecherischen Vater. Sie ist auch eine Hassliebeserklärung an New York und beschreibt im Opener „Pay your Way in Pain“ eben jenen dreckigen Glamour, der New Yorks Bewohner*innen umhüllt. Dieser Song lässt sich thematisch als eine Blues Neuinterpretation verstehen, denn es geht um Geldnot, dem Gefühl nicht in die Gesellschaft zu passen und dem Drang geliebt zu werden. Gleichzeitig ist es ein vertonter Mittelfinger an überholte stereotypische Rollenverständnisse. Musikalisch ist die Referenz zu David Bowies „Fame“ nicht zu überhören. Auch der Song „My Baby wants a Baby“ enthält musikalisch popkulturelle Referenzen: hier hat sich Annie Clark am Refrain des Songs „9 to 5“ von Sheena Easton bedient. Annie Clarks dahin wabernde Stimme, Backgroundsängerinnen und eine Lap – Steel – Gitarre verleihen dem Song eine romantische Countryatmosphäre, die im Kontrast zu den Lyrics steht.
Ein Highlight der Platte ist das Lied „Candy Darling“. Dieser Track macht nochmal deutlich, woher St. Vincent ihre Inspiration für „Daddy ´s Home“ genommen hat. Denn jener verträumte und melancholische Song ist eine Hommage an die Drag Ikone und Andy Warhol Muse, Candy Darling. Sie ist mit nur 29 Jahren verstorben aber schaffte es in dieser kurzen Lebenszeit sich selbst zu verwirklichen, das spießige Queens zu verlassen und in Manhattan berühmt zu werden. Diese besondere Lebensgeschichte lässt St. Vincent nochmal aufleben:
So Queen of south Queens
We never did stop cheering for you, babe
And your wig, blonde, rolls home
Waving from the latest uptown train
St. Vincent - "Candy Darling"
Geschichtsunterricht mit St. Vincent
„Daddy´s Home“ ist wie ein gut sortierter Schallplattenladen und präsentiert exzentrisch einen Rückblick auf die Musikgeschichte der 70er Jahre, ohne nostalgisch verklärend zu sein. Die Soundpalette reicht von Blues, Country über Funk bis hin zu Soul und hebt sich damit von den bisherigen St. Vincent Alben ab, ohne ihren Sound komplett über Bord geworfen zu haben. Das macht „Daddy´s Home“ zu einem grandiosen Pop Album.
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